2024-02 Plädoyer für eine Gesellschaft ohne Vorurteile

Plädoyer für eine Gesellschaft ohne Vorurteile
 
Herrenberg: Prof. Dr. Wolfgang Benz, ehemaliger Leiter des Zentrums für Antisemititsmusforschung der Technischen Universität Berlin, sprach in der Stadthalle über Werte und die Gefährdung der Demokratie.
 
von Thomas Morawitzky Gäubote Herrenberg, 09.02.2024
 
betreuender Lehrer: Alexander Riegler

Aus dem Publikum in der gut besetzten Stadthalle kamen interessierte Fragen. GB-Foto: Vecsey 

Ana Mojovic und Justus Limpächer vom Geschichts-Leistungskurs des Andreae-Gymnasiums moderierten die Diskussion mit Wolfgang Benz.    GB-Foto: Vecsey

Prof. Dr. Wolfgang Benz hat viel zu sagen zu einem Thema, das leider wieder die Welt bewegt. Benz ist Historiker und leitete bis 2011 das Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin. Hunderte von Schülerinnen und Schülern hören in der Stadthalle seine Ausführungen, stellen ihm Fragen. Und die Einsichten des Forschers überraschen durchaus: Denn für Wolfgang Benz ist der Antisemitismus kein isoliertes Phänomen, sondern steht im Zusammenhang mit anderen Mechanismen der Ausgrenzung; er zieht Parallelen zwischen Antisemitismus und Islamfeindlichkeit, will den Begriff des Antisemitismus nicht verallgemeinert auf jede Opposition zu Israel beziehen. Benz besitzt als Historiker grundlegende Kenntnis der Genese dieses Begriffs, differenziert und spricht auch entschieden seine Meinung nicht nur zur neuen Rechten aus.

Spät am Nachmittag, gegen Ende der Veranstaltung schon, stellt ein Schüler die Frage, was der Wissenschaftler von der AfD halte. Wolfgang Benz wurde 1941 in Ellwangen geboren, studierte Geschichte, Kunstgeschichte und Politik in Frankfurt am Main, Kiel und München. Er hat sich schon früh engagiert mit den Folgen des Nationalsozialismus auseinandergesetzt; Seine erste Veröffentlichung, sagt er, habe sich mit dem Thema der neuen Rechten beschäftigt - der 1964 gegründeten NPD. Er spricht auch von der sogenannten Deutschen Volksunion, den Republikanern, davon, dass all diese Formierungen mittlerweile von der AfD „übertrumpft und abgelöst wurden", schließt: „Die kommen und gehen. Sie kommen als Protestpartei, ziehen Wütende an sich, und nach einer oder zwei Perioden in einem Landtag haben sie
abgewirtschaftet, weil sie zur Politik nicht fähig sind und keine Lösungen haben."

Benz ist dennoch besorgt. Er sieht tatsächlich eine Gefahr für die Demokratie in einer Zeit, in der Rechtsextreme in mehreren Ländern die zweitstärkste Partei stellten, er sagt: „Mir graut davor. Dass es rechtsextreme Idioten gibt, das zieht sich eigentlich durch die ganze Geschichte der Bundesrepublik. Aber dass sie so großen Zulauf erhalten von Menschen, die zum großen Teil offenbar gar nicht wissen, wem sie da hinterherlaufen - das ist entsetzlich." Björn Höcke ist für Wolfgang Benz ein „Ersatz-Hitler im Kleinformat", die AfD „Lug und Trug, Schwindel und Bauernfängerei": „Dass eine so große Anzahl von Bürgern darauf hereinfällt, macht mich ratlos."

Den Juden wurde der Zugang zu „bürgerlichen" Berufen verwehrt

Zutiefst verstörend empfindet der Antisemitismusforscher auch die Tatsache, dass es innerhalb der AfD offenbar eine kleine jüdische Gruppierung gibt. Im Hinblick auf den Antisemitismus zeigt Wolfgang Benz auf, dass dieser Begriff erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstand - zu einem überaus problematischen Zeitpunkt, in dem die verbreitete Judenfeindlichkeit des Mittelalters und der frühen Neuzeit umschlug in die durch vorgeblich wissenschaftliche Fakten fundierte Rassenlehre. Benz spricht von der ursprünglichen Judenfeindlichkeit, die die Juden als Feinde des Christentums ansah, ihnen ungeheuerliche Praktiken nachsagte, ihnen auch den Zugang zu den sogenannten bürgerlichen Berufen verweigerte. Das wichtigste berufliche Betätigungsfeld, das den Juden blieb, waren Handel und verzinster Geldverleih - Letzteres war Christen zu dieser Zeit nicht gestattet. Viele Juden retteten sich aus der Misere von Ausgrenzung und Verfolgung, indem sie zum Christentum konvertierten. Mit dem Aufkommen der Rassenlehre war ihnen dies nicht mehr möglich.

Die Existenz menschlicher Rassen von größerem oder geringerem Wert galt im 19. Jahrhundert als wissenschaftliche Erkenntnis; heute ist sie wissenschaftlich widerlegt. Für die Juden wurde das pseudowissenschaftlich untermauerte Vorurteil zum Fluch: Nun lag den Juden „das Böse im Blut", und keine Konversion konnte sie mehr retten. Den Antisemitismus allerdings grenzt Wolfgang Benz scharf ab vom Zionismus, der sich vor allem erst im 20. Jahrhundert um die Gründung eines eigenständigen jüdischen Staates bemühte, dies in Israel schließlich verwirklichte. Deshalb kritisiert Benz die aktuelle Verwendung des Antisemitismus-Begriffs im Hinblick auf den Konflikt zwischen Israel und Palästina. Wolfgang Benz geriet dabei selbst in die polemische Schusslinie: Eine größere Stadt im Rheinland, sagt er, habe jüngst kurzfristig eine Veranstaltung mit ihm abgesagt, da ihm eine Nähe zur Kampagne BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) nachgesagt werde, die zu Boykotten unterschiedlicher Art gegen den israelischen Staat aufruft. BSD, sagt Wolfgang Benz jedoch, spiele in Deutschland eine nur sehr kleine Rolle - „und ich habe nicht das Geringste mit dieser Gruppe zu tun."

Kritik formuliert der Experte auf andere Weise. Er sagt: „Wenn ich Mitgefühl für die palästinensische Seite zeige, dann heißt das noch lange nicht, dass ich den terroristischen Überfall auf Israel preise oder das Existenzrecht Israels bestreite. Das ist vollkommen selbstverständlich; ich bestreite ja auch nicht das Existenzrecht der Schweiz oder der USA. Dass man in der heutigen Situation zu einer unbedingten Parteinahme aufruft - hier Freund und dort nur Feind -, das allerdings finde ich verhängnisvoll."

Die neue Aufmerksamkeit, die dem Antisemitismus zukommt, hält Wolfgang Benz für keinesfalls übertrieben. „Nur erfolgt das mit dem falschen Zungenschlag. Wir sollten den Antisemitismus nicht am politischen Verhältnis zu Israel festmachen, sondern nie aus dem Sinn verlieren, dass es bei 20 Prozent der deutschen Bevölkerung nach wie vor Vorurteile Juden gegenüber gibt."

Eine Gefahr sieht Wolfgang Benz in dem Umstand, dass viele Menschen, die als Flüchtlinge nach Deutschland kommen, aus arabischen Ländern stammen, ihnen also wiederum eine antisemitische Haltung angelastet werden könnte. „Wir sollten auch schauen, wie wir uns Muslimen gegenüber verhalten", sagt er. „Wir sollten immer nach Schwachstellen unseres Verhaltens suchen."

Sein persönliches Bestreben, die Erforschung des Antisemitismus auszuweiten zu einer allgemeinen Erforschung von Vorurteilen, die alle Minderheiten miteinbezieht, sieht der 82-Jährige heute fast schon als gescheitert an. Er fragt: „Warum brauchen wir als Mehrheit Minderheiten, die unsere Feinde sind, weshalb ist das gut für unser Selbstbewusstsein? Wir sollten uns nicht nur Juden gegenüber anständig verhalten, sondern auch den Muslimen gegenüber, den Sinti und Roma und allen anderen."

(Artikel erschienen am 09.02.2024 im Gäubote Herrenberg. Wir danken der Redaktion des Gäubote für die freundliche Genehmigung des Nachdrucks. Siehe auch www.gaeubote.de).

 

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